Jeder von uns hat schon einmal Obdachlose auf der Straße gesehen, ist an ihnen vorbeigegangen, hatte sie wahrscheinlich im nächsten Moment schon wieder vergessen. Dass jeder Obdachlose eine individuelle Geschichte hat, zeigten uns Steve und Markus – beide Guides des Sozialmagazins „Straßenkreuzer“ auf Honorarbasis - auf eindrucksvolle Art.
Wir, die Klasse 9b mit Frau Menzinger und Frau Schenker treffen die beiden vor dem Handwerkerhof. Sie stellen sich mit ihren Vornamen vor, denn auf der Straße duzt man sich. Steve ist schon länger dabei. Er ist der Verkäufersprecher des „Straßenkreuzers“ und Stadtführer. Für Markus ist es erst seine dritte Führung, das merkt man ihm aber nicht an. Beide wechseln sich beim Erzählen ab, jeder hat sein Spezialgebiet.
Steve führt uns zuerst zur Pfandtonne. Diese steht in der unteren Etage des Bahnhofs in einer Ecke. Dort können Pfandflaschen eingeworfen werden, mit deren Erlös der „Straßenkreuzer“ unterstützt wird. Am oberen Teil der Tonne ist ein Zähler angebracht und wenn die Tonne voll ist, bekommt der „Straßenkreuzer“ eine E-Mail und die dafür zuständigen ehemaligen obdachlosen Mitarbeiter holen die Flaschen ab, bringen sie zum Flughafen und geben sie dort ab. Noch während die Schüler Fragen zur Pfandtonne stellen und schätzen, wie viel Geld zusammenkommt, wenn die Tonne voll ist, wirft ein Mann ein paar Flaschen ein. „Danke, dass Sie uns unterstützen“, ruft Steve ihm zu. Gut, dass die Tonne so gut angenommen wird.
Als Nächstes führt uns unser Weg durch ein Eisentor auf die Rückseite des Bahnhofs. Markus erzählt, dass hier noch vor wenigen Jahren ein beliebter Platz war, um Drogen zu kaufen und zu konsumieren. Bis zu 80 Drogenabhängige haben sich hier manchmal getroffen. Inzwischen hat die Polizei diesen Treffpunkt aber durch häufige Kontrollen zerschlagen. Markus hat bis vor vier Jahren hier selbst konsumiert, nun ist er substituiert, das heißt, er bekommt einen Ersatzstoff. Er kritisiert, dass es in Bayern – anders als in anderen Bundesländern – keine „Druckräume“ (geschützte Räume, in denen Drogenkranke die Möglichkeit haben zu konsumieren) gibt. Trotzdem werde in Nürnberg einiges für sie getan. Neben der Möglichkeit, sich z. B. bei der Mudra beraten zu lassen, das ist die „Alternative Jugend- und Drogenhilfe Nürnberg e.V.“, gibt es inzwischen Spritzenautomaten, sodass die Abhängigen auf sauberes Besteck zurückgreifen können.
Doch wie wird man eigentlich obdachlos? Wie wird man zum Drogenabhängigen? Antworten darauf gibt Steve an unserer nächsten Station, der Notschlafstelle für obdachlose Jugendliche. Meist haben Jugendliche Konflikte mit ihren Eltern. Sie laufen von zu Hause weg. Sie empfinden es zunächst als Abenteuer, auf der Straße zu leben. Schließlich gibt es dort keine Regeln, sie dürfen rauchen, trinken oder kiffen. Schnell finden sich Gleichgesinnte. Doch was zunächst einmal cool zu sein scheint, wird bald zur gefährlichen Falle, denn es geht schnell, dass man süchtig wird und es ist extrem schwer, davon wieder loszukommen. Immer wieder betonen die Guides: „Lasst die Finger von Drogen und auch von Alkohol. Und geht zur Schule und macht euren Abschluss.“
In der Notschlafstelle finden obdachlose Jugendliche nicht nur einen Schlafplatz. Sie können sich duschen und bekommen ein Frühstück. Wenn sie reden oder sich beraten lassen wollen, dann ist ein Sozialarbeiter vor Ort. Auch wenn am Schild steht, dass das „Check-in“ von 19 bis 23 Uhr erfolgt, handelt es sich hier auf keinen Fall um ein Hotel. Nur sechs Tage im Monat dürfen Jugendliche hier übernachten. Nur in Ausnahmefällen ist eine längere Zeit erlaubt, z. B. um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zum Entzug zu überbrücken. Außerdem helfen die Jugendlichen hier mit, indem sie ihr Bett selbst beziehen und auch wieder abziehen.
Ein weiterer ehemaliger Übernachtungsplatz ist der Skulpturenpark. Hier wurde es früher geduldet, dass Obdachlose in den Nischen in der Stadtmauer übernachten. Das weiß Steve aus eigener Erfahrung. Inzwischen wird das Tor zum Park aber nachts geschlossen. Die 9 b möchte wissen, welche Drogen in Nürnberg verkauft werden und was eigentlich ein Gramm Heroin kostet. Markus antwortet, dass es fast alles gibt und dass es bei Heroin mehrere hundert Euro pro Gramm sind. Deshalb „schnorren“ viele, prostituieren sich oder stehlen, um an Geld zu kommen, damit sie die Sucht befriedigen können.
Steve und Markus sind weg aus der „Szene“, sie haben ihre Anstellung beim Straßenkreuzer, Steve hat inzwischen auch seine zweite eigene Wohnung. Er ist endlich angekommen. Auch Markus hat eine eigene Wohnung und einen Arzt, der ihn unterstützt. Vor Kurzem hat er den ersten Urlaub seit acht Jahren gemacht.
Wir bedanken uns bei unseren Guides über den interessanten Einblick in das Leben auf der Straße. Vielen Dank für eure Offenheit, mit der ihr über eure Schicksale gesprochen habt.
Die Klasse 9b mit Evelyn Menzinger und Magret Schenker